Das Freiburger Flamenco Ensemble madrugá flamenca ist der diesjährige ZMF-Preisträger. Seit der Gründung im Jahr 2000 engagiert es sich für eine Öffnung des Flamencos, weg von Spanienklischees und hin zu einer ganz eignen Interpretation, die den Jazz ebenso miteinbezieht wie die Literatur. Kastagnetten hört man in den Programmen von madrugá flamenca eher selten, wohl aber neben der Gitarre Bass und Querflöte. Studiert haben die Tänzerin Sybille Märklin und der Musiker Jörg Hofmann, die madrugá flamenca begründet haben, den Flamenco in Spanien. Zeitgenössischen Flamenco zeigen sie mittlerweile auf vielen Bühnen im In- und Ausland. Mit Erfolg. Mit Sybille Märklin und Jörg Hofmann sprach Annette Hoffmann über den Flamenco jenseits der Klischees, das Arbeiten im Ensemble und den Flamenco als Kunstform.
Kultur Joker: Ist es nicht sehr kühn vom ZMF seinen Preis ausgerechnet an eine Gruppe zu verleihen, deren aktuelle Produktion „¡Agua!“ heißt?
Sybille Märklin: Weil das schlechte Wetter immer wie ein Damoklesschwert über dem ZMF schwebt? Das ist pikant (lacht). Ich glaube, es ist die Flucht nach vorne. Ich spekuliere ja auf ein richtig schönes Gewitter, so dass die Zeltwände beben.
Kultur Joker: Madrugá flamenca fällt ein wenig aus dem Rahmen der üblichen Preisträger des ZMFs, da Sie keine Band sind. Wie würden Sie sich denn einordnen?
Märklin: Eine Band sind wir wirklich nicht, da fehlt die tänzerische Seite. Ein Tanzprojekt sind wir auch nicht, da fehlt die musikalische Seite. Ensemble trifft ganz gut das, was wir machen. Wir tauschen uns sehr intensiv aus, wir machen schon lange Musik zusammen und sind miteinander befreundet.
Jörg Hofmann: Mit unserer Kunst fallen wir überhaupt aus dem Rahmen. Wir sitzen häufig, wenn es um die Vergabe von Fördermitteln oder Anfragen von Veranstaltern geht, zwischen den Stühlen. Die Musik kommt bei Tanzfestivals häufig aus der Dose; Musikveranstaltungen sind jedoch nicht darauf vorbereitet, dass wir eine Bühne brauchen, auf der man tanzen kann. Was wir machen, ist wirklich ungewöhnlich. Denn noch immer folgt man im Flamenco häufig den klassischen Stereotypen. Wir aber komponieren unsere eigene Musik, haben einen ganz eigenen Tanzstil und unsere Abende haben eine Dramaturgie.
Kultur Joker: Madrugá flamenca steht für eine Öffnung des Flamencos. War Ihnen das möglich, da Sie als Deutsche einen anderen Blickwinkel haben oder ist dies generell eine Entwicklung im zeitgenössischen Flamenco?
Märklin: Seit ungefähr fünfzehn Jahren passt sich der Flamenco an andere etablierte Sparten an und entfernt sich vom Nummernprogramm. Das ist in Spanien so, aber auch in Tokio. Viele setzen sich mittlerweile mit Themen auseinander. Dass wir keine andere Wahl hatten, liegt auch daran, dass wir auch in dieser Beziehung zwischen den Stühlen sitzen. Weil wir als Deutsche Flamenco machen. Wenn wir authentisch sein wollen und keine Spanienklischees kopieren wollen, müssen wir ausdrücken, was in uns ist. Wir konnten deshalb mit einer anderen Freiheit voranschreiten als diejenigen, die vom hergebrachten Flamenco kommen und die Bürde der Tradition erst einmal abstreifen mussten.
Hofmann: Wir wollten nicht etwas Neues erfinden, sondern zeigen, wie wir den Flamenco verstehen und wir wollen unsere Einflüsse darstellen. Unser Anliegen ist es als Künstler die Welt zu reflektieren und wir machen dies mit dem Flamenco. Da entsteht dann etwas, das unweigerlich neu ist.
Märklin: Guter Flamenco ist immer so entstanden. Das, was heute Tradition ist, war vor hundert Jahren neu. Der Kern des Flamencos ist ein permanentes Sich-Bewegen, Sich-Befruchten, Sich-Einlassen auf andere Stilistiken. Um sich daraus immer wieder neu zu kreieren. Sonst bleibt der Flamenco ein totes folkloristisches Fossil, so wie man ihn aus den 60er Jahren kennt.
Kultur Joker: Wie sind Sie zum Flamenco gekommen, der doch eigentlich ein andalusisches Kulturgut ist, in das ganz viele verschiedene Strömungen geflossen sind.
Märklin: Für mich ist Flamenco Weltmusik, die genauso andalusisch wie indisch, arabisch, persisch, maurisch, byzantinisch, griechisch, afrikanisch ist. Wer tanzt oder Gitarre spielt, kommt nicht um den Flamenco herum.
Hofmann: Die Vorstellung, dass der Flamenco mit einer Nation oder einer regionalen Identität verbunden ist, war für uns nicht wichtig. In Spanien wurde mir aber schon gesagt, dass es unlogisch sei, dass ich als Deutscher Flamenco spielen könnte. So als ob Flamenco mit dem Blut übertragen würde. Jeder, der gut singen, tanzen oder Gitarre spielen kann, weiß, dass man sich die Dinge hart erarbeiten muss. Es ist jedoch ein großer Vorteil unserer Zeit, dass wir offener mit solchen nationalen Zuschreibungen umgehen.
Kultur Joker: Als Sie 2000 mit madrugá flamenca angefangen haben, bestand damals bereits Ihre jetzige Besetzung mit Gitarre, Gesang, Tanz, Querflöte und Bass?
Hofmann: Jörg Benzing an der Querflöte war von Beginn an dabei, ein paar Monate später folgte Markus Lechner am Bass. Die Percussions spielt bei „¡Agua!“ Friedemann Stert und an den Palmas (Klatschen) sind Michaela Wenzlaff und Frauke Alpermann. Seit 2006 ist der Tänzer Marco Volta regelmäßiger Gast.
Kultur Joker: Ein programmatischer Beginn? Schließlich ist Querflöte und Bass keine klassische Flamencobesetzung.
Hofmann: Nein, aber es ist auch nicht wahnsinnig originell. Die Gitarre ist in der Flamencocombo Rhythmus- und Harmonieinstrument. Daher liegt es nahe, sich als Ergänzung ein Melodieinstrument zu suchen. Der Bass verkörpert die tieferen Register der Gitarre. Dieses Trio Gitarre Bass und Flöte ist der Sound, der uns ausmacht.
Märklin: Als wir Musiker gesucht haben, waren wir nicht auf Bass und Querflöte festgelegt. Wir wollten Profis, die menschlich zu uns passen. Die Lust haben, sich in die Sache genauso reinzuschmeißen wie wir.
Hofmann: Wir können in dieser Besetzung farbenreicher spielen. Musikalische Kontraste zu setzen, ist wichtig für die Dramaturgie. Aber Leute, die Flamenco spielen, saugen wie ein Schwamm alles auf: gregorianische Gesänge, jüdischen Synagogengesang, sie schauen auch, was Jazz- oder Klassikgitarristen machen.
Kultur Joker: Sie haben vorhin Marco Volta angesprochen, der beim Tanztheater Freiburg Heidelberg unter Irina Pauls gearbeitet hat. Wie bindet man jemand ein, der vom zeitgenössischen Tanz kommt?
Märklin: Marco Volta hat in Italien lange Flamenco getanzt. Wir haben versucht, ihn als zeitgenössischen Tänzer einzubinden, der auch Flamenco tanzt. Er ist ein sehr szenischer Tänzer und ein fantastischer Schauspieler. Hier zeigt sich wieder unser Ensemblecharakter. Wir versuchen die Künstler nach ihren Möglichkeiten einzusetzen und diese auszuschöpfen. Bei uns macht jeder das, was er kann.
Hofmann: Man kann so Grenzen verschwimmen lassen. Das, was man kennt mit dem vermischen, was man nicht kennt und so eine Grauzone entwickeln. So dass sich der Zuschauer fragt, ob das noch Flamenco ist, was er sieht. Es ihm aber zunehmend egal wird und er einfach zusieht und den Moment als solchen spürt.
Kultur Joker: Sie haben Gedichte von Pablo Neruda, aber auch von Goethe vertont und vertanzt, bei dem Abend „Pablo Neruda – Poemas de Amor“ kam die Bildende Kunst hinzu. So kann man sicherlich der Folkloreschublade entkommen, doch überfrachten Sie mit diesem Gesamtkunstwerk nicht den Flamenco?
Märklin: Überfrachtung hätte etwas Willkürliches. Wir sind im Vorfeld ziemlich vorsichtig, wie wir etwas einbeziehen. Wenn es für uns keinen Sinn ergibt, dass Nelson Leiva auf der Bühne malt, dann malt er nicht. Sobald etwas Mittel zum Zweck wird, ist es überfrachtet. Sobald es für uns einen künstlerischen Anknüpfungspunkt ergibt, bleibt es organisch. Das Programm „Liebesgedichte“ ist aus der Überlegung entstanden, was wir mit Pablo Neruda assoziieren. Für uns war es stimmig, dass Nelson Leiva, der Pablo Neruda noch die Hand schüttelte, da sie im gleichen Verlag gearbeitet haben, auf der Bühne Bilder zu Gedichten von Neruda malt.
Kultur Joker: Ein ausgesprochen theatralisches Moment ist der Kostümwechsel in Ihren Programmen. Entstehen die Kostüme parallel zur Choreografie und der Musik?
Märklin: Das hat eine lange Vorlaufzeit. Meist gehe ich vom Tanz aus und überlege mir, wie er schmeckt, wie die Aire, die Atmosphäre, ist. Daraus entsteht dann die Idee für ein Kostüm. Der Kostümwechsel liegt in der Tradition des Flamencos. Es gibt sogar Farben für bestimmte Stile: So tanzt man eine Solea in Schwarz oder Grün, eine Alegria in Gelb oder Weiß. Es ist sogar festgelegt, wo die Blume im Haar zu sitzen und wie man sich zu schminken hat. Diesen Konventionen widme ich eine Hommage, kommentiere sie mit einem Augenzwinkern oder breche sie ironisch.
Hofmann: Unsere Aufgabe ist es, von einem bestimmten Stil des Flamencos auszugehen, dann zum Beispiel ein wenig die Rhythmik zu ändern. Das kann den Charakter eines Stils schon gänzlich ändern. Wir lassen unseren Assoziationen freien Lauf, fragen uns, was eine Seguiriya, ein bestimmter Stil im Flamenco, wäre, wenn sie aus Wasser wäre. So entstehen neue Ideen.
Märklin: Das ist unsere Art der Traditionspflege. Sich auf neue und kreative Weise mit den Traditionen auseinandersetzen und sie dennoch zu pflegen und zu wahren.
Kultur Joker: Das thematische Arbeiten hat etwas sehr Performatives an sich. Gibt es so etwas wie Rollen im Flamenco?
Märklin: Wie ein Schauspieler schlüpfe ich während einer Vorstellung in Rollen. Das ist wohl das, was man im Flamenco als Aire bezeichnet: Die Stimmung, die Haltung, die die verschiedenen Stile im Flamenco voneinander unterscheidet. Ich habe aber nicht das Gefühl dabei, jemand anderes zu sein. Eher, dass ich in verschiedenen Stücken unterschiedliche Aspekte von mir in den Vordergrund rücke.
Hofmann: Man braucht Authentizität, um einen bestimmten Stil zu spielen. Man muss diese Gefühle suchen. Was die Zuschauer wirklich berührt, ist, wenn du etwas von dir preisgibst, dich verletzlich zeigst.
Kultur Joker: Sie treten nicht nur mit madrugá flamenca auf, sondern haben auch eine eigene Schule aufgebaut. Wie unterrichtet man etwas so Komplexes wie den Flamenco?
Hofmann: Von vielen unterschiedlichen Seiten. Es gibt um die 50 verschiedenen Stile, die man mit der Zeit lernen muss. Man muss lernen, wie man Hand, Schulter, Arm, Kopf und Füße koordiniert. Dieses technische Rüstzeug braucht man für die unterschiedlichen Stilistiken. Dann fängt der künstlerische Prozess erst an.
Märklin: Der Flamenco ist letztendlich sehr individualistisch. Sein Ziel ist nicht, dass alle das Bein auf gleicher Höhe halten und dass alles gleich aussieht. Es geht vielmehr darum, in sich zu suchen, was eine Alegria ist. Was ich als Lehrerin sehen will, ist, dass da etwas ist. Oft versteckt sich jemand hinter einer rein technischen Ausführung. Doch genau das funktioniert im Flamenco nicht. Da muss jemand etwas erzählen. Diese Bereitschaft zu erzeugen, ist viel Arbeit. Was wir in der Schule machen, hat jedoch viel mit Spaß zu tun und damit, Hemmungen abzubauen. Auch wenn man blond oder kräftig gebaut ist, kann man Flamenco tanzen.
Kultur Joker: Was haben Sie bei Ihrem Konzert auf dem ZMF vor?
Märklin: Wir werden den Abend mit den Klazz-Brothers gestalten. Es wird eine Art Doppelabend werden. Jeder spielt sein Programm und am Ende gibt es eine musikalisch-tänzerische Begegnung. Wir werden Auszüge aus unserem Programm „¡Agua!“ spielen. Wir sind selbst sehr gespannt.
Kultur Joker: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Kultur Joker, 6/08