Im Rückblick erschien Pablo Neruda das Jahr 1923, in dem „Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ entstanden sind, als Wende. Die Armut drückte, dennoch führte er in Santiago das Leben eines Künstlers, der auf der Such nach seiner eigenen Stimme war. In seiner Autobiographie „Ich bekenne, ich habe gelebt“ schreibt Neruda über seinen zweiten Lyrikband, es ist „ein Hirtenbuch, die meine gequältesten jugendlichen Leidenschaften enthalten, vereint mit der überwältigenden Natur des Südens meines Vaterlandes. Es ist ein Buch, das ich liebe, weil neben schneidender Schwermut auch Lebensfreude darin ist.“ Obgleich es zu den bekanntesten Veröffentlichungen Nerudas wurde, war die Kritik anfänglich gespalten. Den einen waren die erotischen Darstellungen zu unverblümt, den anderen die Form zu konservativ. Tatsächlich haben die zwanzig Liebesgedichte nur wenig mit seiner späteren Lyrik gemeinsam. Noch wirken die Verse konventionell, reimen sich mitunter, als Ganzes gesehen weisen die zwanzig Gedichte eine eigene Dramaturgie auf. Die häufigen Assonanzen im Spanischen lassen die Sprache klingen.
So sehr, dass Jörg Hofmann von Madrugá flamenca beim ersten Lesen gleich Melodien hörte. Anlässlich Nerudas 100. Geburtstag, der am 12. Juli 1904 im chilenischen Parral als Neftali Ricardo Reyes y Basoalto geboren wurde wuchs diese Annäherung zu einem Buchprojekt aus. Es vereint die Dichtung Nerudas mit der Musik und der Bildenden Kunst. Nelson Leiva, der Neruda in Chile kennen gelernt hatte und seit 1987 in Freiburg lebt, greift das Motiv der Muse und das gegenseitige Spiegeln der Liebenden in seinen Zeichnungen mit auf. Stellt er das Paar dar, ist die Feder des Dichters immer mit dabei. Die Frau dient, so legt er in seinen auf wenige Striche konzentrierten Illustrationen nahe, der Lebens- und Liebeserfahrung, die vom lyrischen Ich in Verse überführt wird. Daher wiegt der in der Edition Büchergilde erschienene zweisprachige Band doch etwas mehr als ein „überdimensioniertes Booklet“. Schlägt er doch Brücken zwischen den einzelnen Künsten. Die Musik sei, so Jörg Hofmann, Gitarrist und Sänger der Freiburger Flamenco-Gruppe, eine Möglichkeit Barrieren niederzureißen und den Weg zur Dichtung zu ebnen, so wie die Vertonungen auch zum Flamenco hinführen können. Den gesungenen Texten werden die Rezitationen von Jörg Ratjen beiseite gestellt, der auf eine sehr schlichte und wohltuende Weise das Pathos Nerudas bricht.
In seiner Reinform ist der Flamenco nicht auf der 65-minütigen CD zu hören; Hofmann hat die liedhaften Elemente, Refrains und Reime entgegen der Flamenco-Tradition aufgegriffen. Obgleich Neruda selbst keine Beziehung zu dieser Musik hat, sieht die Tänzerin Sybille Märklin, die hier die Percussions beisteuert, sehr viele Gemeinsamkeiten. „Nerudas Sprache ist so erdig, bodenständig und unmittelbar, dass sich daran viele Flamencostrophen anknüpfen lassen.“ Derzeit arbeitet sie an einer Choreographie zu den Liebesgedichten, die im November in Berlin Premiere haben wird und im Herbst auch nach Freiburg kommt. Auch sie will sich in ihrer Interpretation nicht einschränken lassen, sondern sich alle Freiheit nehmen, auch wenn diese manchmal zum modernen Tanz führt.
Das berauschende Gefühl für den Künstler, seine eigene Veröffentlichung in der Hand zu halten, sei mit nichts zu vergleichen, sagt Neruda und „Wiederkehren werden viele sorgfältigere schöne Buchausgaben“. Diese ist eine davon.
Kulturjoker, 7/04