Aus den Quellen der Tradition Madrugá flamenca begeistert mit ¡Agua! im LTT

Tübingen. Mit ihrer Produktion „¡Agua!“ hat das Freiburger Ensemble „Madrugá Flamenca“ seit letztem Frühjahr bundesweit für Furore gesorgt. Das nicht ohne Grund. Wer angesichts des Genres Flamenco allein althergebrachte Folklore erwartet hatte, wurde am Sonntagabend im beinahe ausverkauften Saal des LTT in jeder Hinsicht überrascht.

„¡Agua!“ ist eine Aufführung, die in ihrer Thematik und Form absolut zeitgemäß, oft avantgardistisch daherkommt. Aber „Madrugá Flamenca“ wissen natürlich um die überkommenen Denkschablonen, mit denen sich das Publikum dem Flamenco nähern könnte und sprechen diese auch offen an: „Gewöhnlich wird Flamenco mit Feuer assoziiert, mit Leidenschaft“, erläuterte eingangs Sänger und Gitarrist Jörg Hofmann die allzu hohlen Rezeptionsformeln, nach denen den Zuschauern oft eine Flamenco-Performance wie die andere erscheint. „Wir meinen allerdings: Flamenco ist nicht wie Feuer, Flamenco ist wie Wasser.“ Daher der Name der Produktion, „¡Agua!“.

Das Thema des Abends wird im Laufe der Aufführung immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Mal optisch durch die blaugrüne Lichtgestaltung der Bühne oder durch Fotoprojektionen von Wellen, die den Hintergrund ausleuchten. Immer aber auch akustisch, wie gleich am Anfang, als das gesamte Ensemble am vorderen Bühnenrand zusammenkommt, um durch schlichtes Fingerschnippen den Eindruck vom Tröpfeln und Prasseln des Regens zu erzeugen. Diese Gesten sind alles andere als simpler Effekt. Sie geben dem Zuschauer immer wieder gleichsam eine Hilfestellung, den Tanz von Sybille Märklin, der im Mittelpunkt von „¡Agua!“ steht, von der Perspektive der Weichheit, der Nachgiebigkeit, der im besten Sinne kühlen Fruchtbarkeit des Wassers aus zu empfinden.

Flamenco jenseits aller Klischees. Mit ihrer mal fließenden und zögerlichen, mal impulsiven und energetischen Choreographie stand Sybille Märklin stets im Zentrum der Lieder. Hinter ihr, wachsam wie ein antiker Chor, Michaela Wenzlaff und Frauke Alpermann, die behutsam klatschend, hauchend und rufend Atmosphäre schufen. Jörg Hofmann sang und spielte die Gitarre, Jörg Benzing die Querflöte, Markus Lechner und Friedemann Stert Kontrabass und Schlagzeug. Es gab magische Momente, in denen Tänzerin Märklin ihre beschwörenden Gesten abrupt abbrach und aus dem Dunkel der Bühne ganz plötzlich verschwand. Dann spielte das Ensemble für ein paar Minuten ohne sie, Hofmann zupfte samtig singend die Gitarre oder Benzing blies eine durch mehrfaches Echo geisterhaft klingende Querflöte.

In neuem Kleid tauchte Märklin dann wieder auf, zeigte die immer absolut beherrscht wirkenden, mal sanften, mal aggressiven Figuren im Halbdunkel der Bühne. Nur ab und zu sprang sie ins gleißende Licht der Scheinwerfer, nutzte tanzend ihren ganzen Körper, Füße, Hände, Brust und Beine als Percussion, bis sie schwer atmend und mit athletisch abgespreizten Armen in der Mitte des Podiums stand – ein ehrfurchtsgebietender Anblick. Meist lauschten die Zuschauer im Großen Saal des LTT nur atemlos. Doch wenn es sich anbot, brachen sie in einen Beifall aus, der um so enthusiastischer war.

Am Ende war es kaum möglich, zwischen neu und alt zu unterscheiden, zwischen Tradition und Avantgarde. Sicher war nur, dass der Abend mit allen Stereotypen gebrochen hatte. Indem sie das mitteleuropäische Klischee des Flamenco deutlich in Frage stellen, setzen „madrugá flamenca“ mit „¡Agua!“ das vielfältige und widersprüchliche Wesen des Tanzes wieder ins Recht, bewahren vor der immer präsenten eindimensionalen Rezeption folkloristischer Musik.

Sehr erfrischend.

Schwäbisches Tagblatt, Eike Freese, 4/08